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Vom Aspiranten zum Giganten


"Nonstop" mit dem Rad zur Ostsee


25. Juni, Ahlbeck

mh| Ein Anruf von Stefan an einem dieser grauen Wintertage: ...Ostseetour... von Leipzig nach Ahlbeck mit dem Rad... Johannes kommt mit... wir fahren im Peloton... Nur mit einem Ohr hingehört, kam das „Ja“ als Antwort recht (vor-)schnell. Wie gesagt: der Sommer war noch fern und es blieb ja noch so viel Zeit zum Trainieren. Aber je näher der Starttermin rückte, desto bewusster wurde mir, worauf ich mich eingelassen hatte. Außerdem fiel viel Trainingszeit den verschiedensten Gründen zum Opfer. So manchen Tag hätte ich die Zeit gern wieder ein wenig zurückgedreht und das Wort mit den zwei Buchstaben durch eins mit vieren ersetzt. Aber ich war nun mal angemeldet und es sollte der längste Tag, den ich je auf dem Rad verbracht habe, werden...

Die Zeit bis zu „dem großen Ding“ Ostseetour nahm also beständig ab, während mein Respekt vor der Strecke und den vermutlichen Strapazen beständig zunahm. Auch mein „Kilometerkonto“ auf dem Rad wuchs ständig an. Leider jedoch nur vergleichbar mit dem DAX bei Konjunkturflaute. Mal hier 60 Kilometer, mal 100 und kaum mal mehr. Ende Mai waren es so eben 600 Kilometer für 2011, bei der Tour sollten es knapp Dreiviertel an einem Tag sein!
Aber nicht nur die Distanz ließ mich nachts nicht schlafen: wie würde es sein im großen und engen Feld zu fahren? Auf Straßenbreite Lenker an Lenker. Wie viel und wann muss man essen? Was passiert bei einem Defekt, muss ich dem Feld dann allein hinterher hecheln? Wer hilft mir, wenn ich stürze? Wie stark werden Gesäß oder Nacken in Mitleidenschaft gezogen? Solche und mehr Fragen türmten sich vor mir auf. - Sicher, für viele davon gab es Antworten und erfahrene Rennradsportler werden über so manche schmunzeln. Klar, hat man als Triathlet auch schon den ein oder anderen Kilometer auf dem Rad zurück gelegt, aber eben eher als Solist. Respektvoll lauschte ich auch den Erzählungen der „Giganten“ der letzten Jahre. Noch bis zu unserer letzten Radausfahrt zum Kyffhäuser, zweieinhalb Wochen vor dem Termin, schwankte ich zwischen "wird schon" und "dann eben Besenwagen". Danach wusste ich: es wird schon!

Die erste Harteprüfung des Tages fand um 1:10 Uhr nach knapp 3 Stunden Schlaf statt. Aufstehen! Gemeinsam mit Stefan wurde ich von Susan gen Leipzig chauffiert. 3:30 Uhr sollte sich die Meute am Augustusplatz treffen. Die Begleitfahrzeuge standen bereits da und nach und nach nahm auch das Fahrerfeld Gestalt an. Darunter Johannes, René, Roland, Volker, Peter und all die anderen Recken vergangener Ausfahrten. Hier noch ein wenig an einer Einstellschraube gedreht, Trinkflaschen aufgefüllt oder einfach nur den Sitz des Trikots geprüft. Ruck zuck war es halb vier, als Cheforganisator Martin Götze zum Aufbruch blies. Es war kühl, aber vor allem dunkel, als sich das Feld durch Leipzigs Innenstadt auf die ersten der kommenden 460 Kilometer machte.

Einige hatten kleine Lampen am Rad montiert, um wenigstens ein wenig den Überblick zu behalten. Schon jetzt ging es äußerst hektisch zu, der Tacho zeigte ständig mehr als 30 km/h an. Keine Zeit zum Eingewöhnen... und schon war es passiert! Der Schriftzug „Wurzener“ auf einem Trikot breitete sich quer vor mir auf der Straße aus und wurde plötzlich riesengroß. Reflexartig gebremst ging es seitlich gen Straßenrand. Aber da stand auch schon einer! Irgendwie war ich schon aus den Pedalen draußen, konnte aber den leichten Einschlag mit dem Vorderrad nicht verhindern. Sollte es das schon gewesen sein? Stefans Frage, ob alles in Ordnung sei, konnte ich für mich mit einem (diesmal klaren) „Ja“ beantworten. Mit der einen Hand das Fahrrad hochgehoben drehte ich mit der anderen am (Vorder-)Rad. Keine „Acht“, kein Schleifen – es konnte weiter gehen! Auch Team „Wurzener“ hatte sich bereits aufgerappelt und jagte dem Feld hinterher. Dieses hatte von all dem natürlich nicht viel mitbekommen und war ohne das geringste Zögern weitergefahren. Im ersten Moment kommt man sich da schon etwas verlassen vor. Radsport ist eben Kannibalismus!

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Leipzig, gegen 3:00 Uhr Morgenrot
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Pinkelpause Verfahrene Situation
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Gigantentaufe Radsportfreunde

Der erste Sturz nach 3 Kilometern. Bis Kilometer 5 kamen noch 2 Mann mit Defekt hinzu. Wenn es in dieser Frequenz weiter gehen sollte, dann wäre dies „genau meine Veranstaltung“! Doch je weiter wir aus Leipzig raus kamen, um so mehr beruhigte sich das Feld. Die Straßen waren – welch Wunder früh um vier! - nahezu autoleer. Man selber konnte sich jetzt ein wenig umschauen, vielleicht sogar nach all der ersten Anspannung ein zwei Worte wechseln oder eben einfach so dahin rollen. Langsam wurde es hell und der Himmel verhieß eine gute – trockene – Wetterprognose. Nach und nach gewöhnte man sich an die Dynamik des Feldes, das Stauchen und Auseinanderziehen an Hindernissen, vor Bergen und Kurven. Trotzdem musste man immer wachsam sein, denn schon das kleinste Ereignis, wie z. B. das Wort „Pinkelpause“, konnte das Feld abrupt zum Stoppen bringen. Wer da triefte, der machte schnell Bekanntschaft mit dem Vordermann.

Bis zum frühen Nachmittag hatten wir über 260 Kilometer und damit mehr als die Hälfte der Strecke hinter uns. Alles lief so weit glatt und alle freuten sich auf´s Mittagessen. Leider wurde dieses, wie es später hieß, von einem Kollektiv der sozialistischen Arbeit serviert. Jedes Angebot auf Hilfe wurde unter dem Banner der Arbeit konsequent ignoriert. Die „Ruhigstellung“ der 100-köpfigen unterzuckerten Meute mit 0,2 l Cola half beim halbstündigen Warten auf Nudeln und Gulasch auch nicht mehr! In Brandenburg ticken die Uhren in einzelnen Landstrichen eben oft noch anders und so wurden zu unserem „Fahrplan“ noch ein paar Minuten hinzu addiert, ehe es weiterging.

Das Feld nahm mindestens die halbe Straßenbreite ein. Hinterher fuhren Verpflegungs- und Taschenwagen. Vorneweg 2 Motorräder die die unzähligen Kreuzungen für eine freie Fahrt blockierten. Im Großen und Ganzen hielten sich auch alle Autofahrer daran. Die Spitze bildeten ein Krankenwagen sowie das Führungsfahrzeug, dessen Crew sich trotz GPS und Navigationssystem diesen Titel nicht immer verdiente. Oder war es ein „Irrführungsfahrzeug“? Das man mal die ein oder andere Extrarunde drehte, war angesichts des imposanten und großen Feldes nachzuvollziehen. Das man aber über Kilometer „hügelan“ auf einer Straße fährt, die in eine Autobahn mündet, das war vielen dann doch zu viel! So stoppte der Tross unvermittelt und blockierte für 10 Minuten die komplette Straße. Entweder so entspannt oder vielleicht doch einfach nur mitgenommen vom „Schicksal“ der vielen Radfahrer, kam es dabei nicht einmal zum (sonst üblichen) Hupkonzert der motorisierten Mitbürger. Und davon gab es hinter unserem Feld einige. Ganz großes Kino!
Während ein Viertel des Pelotons dem Befehl umzukehren gehorsamst Folge leistete, ließ sich der Rest mehr Zeit und entdeckte eine Autobahnbrücke als Alternative. Nicht über Stock und Stein, dafür über die Leitplanke ging es mit dem Rad auf dem Buckel die steilen Stufen der Diensttreppe hinauf. Da man sich anhand des Sonnenstandes nicht auf eine gemeinsame Richtung einigen konnte, wurde kurzerhand ein „Eingeborener“ der des Wegs kam und befragt. Sein Rat wurde angenommen und es war zum Schaden nicht. Gegenüber den „Gehorsamen“ wurden 10 Kilometer eingespart, so dass beim vorletzten Stopp das Gedränge am Kuchenbuffet nicht so groß war.
Die Verpflegung war im Übrigen den ganzen Tag schon vorbildlich organisiert und alles was das gen Ostsee radelnde Herz benötigte stets vorhanden. Kompliment!

Nach der erfolgreichen Wiedervereinigung wurde aufgrund der vorangegangenen Umwege beschlossen, von der ursprünglichen Strecke abzuweichen. Die nun noch reichlich 100 Kilometer mussten bis zum Dunkelwerden absolviert werden. Dementsprechend motiviert fuhren wir gen Usedom. Wenn es jetzt schon vorbei gewesen wäre, dann hätte ich persönlich auch nichts gesagt. Die Beine waren ok, aber das Sitzen nicht unbedingt mehr schön und auch der Nacken machte sich immer wieder bemerkbar. Aufgrund der Zeitnot am Ende, rollte das Feld nach 15:26 h (Schnitt > 30 km/h) im Zeltlager ein und nicht wie angekündigt an der Seebrücke. Somit musste Gerald als unser abholender Betreuer mit dem Minipeloton bestehend aus Stefan und mir vorlieb nehmen. Was er dann aber trotzdem herzlichst tat!

Am nächsten Tag dann noch die obligatorische „Gigantentaufe“. Mit einem Schluck Ostseewasser über das (lichte) Haar wurde jeder Teilnehmer in den Kreis der „Giganten der Landstraße“ aufgenommen. Etliche waren schon des öfteren dabei, andere werden es ganz sicher wieder tun! ...und vielleicht auch irgendwann einmal Teil des unerschöpflichen Geschichtenfundus der großen kleine Radsportwelt!



Zurückaktualisiert: 2014/02/03

 
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